Vergangenes verstehen – Verantwortung vergegenwärtigen

@Schützenverein Osterwald O/E e.V.

KRH Psychiatrie Wunstorf veranstaltet medizinhistorische Tagung

Wunstorf – Seit über 10 Jahren gibt es einen steten öffentlichen Diskurs über das Unrecht und Leid, das Kinder und Jugendliche, die in Heimeinrichtungen untergebracht waren, zwischen 1949 und 1975 erlitten haben. Aktuelle medizinhistorische Untersuchungen sprechen dafür, dass manche Betroffene in der Psychiatrie weiteres Unrecht erfahren haben. Es gibt Hinweise auf fragwürdige Arzneimittelstudien oder belastende Untersuchungen. In der KRH Psychiatrie Wunstorf gehen die heute Verantwortlichen davon aus, dass auch die Vorgängereinrichtung, das damalige Niedersächsische Landeskrankenhaus Wunstorf mit seiner Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilung, betroffen war.

In der KRH Psychiatrie hat dies den Wunsch ausgelöst, ein möglichst hohes Maß an Aufklärung und Transparenz herzustellen. „Wir sind dem Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in diesem Zusammenhang sehr dankbar, dass es das Thema aufgegriffen und eine umfangreiche medizinhistorische Studie dazu in Auftrag gegeben hat“, erklärt Prof. Dr. Marcel Sieberer, Ärztlicher Direktor der KRH Psychiatrie. „Auch, dass wir jetzt erste Teilausschnitte der Studie im Rahmen einer Fachtagung kennenlernen durften, ist für uns sehr hilfreich.“

Am 7. November fand jetzt eine Fachtagung in der KRH Psychiatrie Wunstorf unter dem Titel „Vergangenes verstehen – Verantwortung vergegenwärtigen“ statt. Zu den Referenten gehörte auch Claudia Schröder, Abteilungsleiterin Gesundheit und Prävention des Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. Sie ordnete ein, warum das Land eine Studie zur Frage des Medikamenteneinsatzes zu Forschungszwecken in der Zeit von 1945 bis 1976 in Einrichtungen der damaligen Landeskrankenhäuser in Niedersachsen in Auftrag gegeben hat. „Es freut uns als Ministerium sehr, dass sich die KRH Psychiatrie Wunstorf und andere Einrichtungen im Land des Themas annehmen.

Wir haben ein großes Interesse, aufzuarbeiten, was damals in Einrichtungen des Landes üblich war, warum Schutzmechanismen für Kinder und Jugendliche nicht ausreichend gegriffen haben und wie wir heute, mit zeitlichem Abstand die Rahmenbedingungen so gestalten können, dass sich Ähnliches nicht wiederholt.“ Um weitere Aufklärung zu erreichen, hat das Landesministerium eine Studie in Auftrag gegeben, zur Frage des Medikamenteneinsatzes zu Forschungszwecken in der Zeit von 1945 bis 1976 in Einrichtungen der damaligen Landeskrankenhäuser in Niedersachsen. Dr. Christine Hartig, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart, führt diese Studie durch. Sie gehörte auch zu den Referenten der Wunstorfer Tagung. Sie stellte auf der Tagung die Vorgehensweise bei Ihrer Forschungsarbeit vor.

„Ich hatte die Möglichkeit stichprobenartig Akten aus der Zeit von 1954 bis 1976 zu sichten. Dabei habe versucht Erkenntnisse über mögliche Testungen von Medikamenten an Patienten und den Einsatz einer damals üblichen Untersuchungsmethode, der Pneumenzephalographie.“ Die Pneumenzephalographie war eine für Pateinten sehr unangenehme Methode, bei der das Gehirn geröntgt wurde. Um eine Aufnahme erstellen zu können, musste Hirnwasser entnommen und Luft zugeführt werden. Es war die damals einzige Möglichkeit, um Aufnahmen des Gehirns zu erstellen, wenn der Verdacht auf eine somatische Störung bestand. „Dabei konnte ich feststellen, dass das damalige Vorgehen sicher nicht den heutigen rechtlichen Standards entsprach und auch die damaligen Rahmenbedingungen, was die Aufklärung von Eltern und Sorgeberechtigten betrifft, nicht immer eingehalten wurden. Von systematischer Verschleierung oder von systematischen Rechtsbrüchen, kann in Wunstorf aber keine Rede sein.“

Im Moment ist vorgesehen, dass die komplette Studie im Rahmen eines Symposiums im Frühjahr 2019 auf Einladung des Niedersächsischen Sozialministeriums vorgestellt wird. Zum Programm der Wunstorfer Fachtagung gehörten außerdem noch Vorträge von Sylvia Wagner, Doktorandin im Fach Geschichte der Pharmazie, zum Thema „Arzneimittelstudien an Heimkindern in der Bundesrepublik 1945-1975“, von Prof. Dr. Asmus Finzen, Psychiater, Nervenarzt und Wissenschaftspublizist und von Dr. Klaus Schepker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm.

Ihre Vorträge spiegelten die große Komplexität des Themas wider. Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion, die von Dr. Monika Müller, Studienleiterin Naturwissenschaften, Ökologie & Umweltpolitik an der Evangelischen Akademie Loccum moderiert wurde. An dem Gespräch nahmen auch ehemalige Patienten, ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Angehörige teil. Sie schilderten in teils bewegenden Statements ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Sie ordneten das Geschehene, Erlebte und Erlittene aber auch in den sozialhistorischen Kontext ein.

„Wir sind sehr dankbar für diesen inhaltsreichen Tag und die große Offenheit, in der wir uns mit Betroffenen und Fachleuten austauschen konnten“, fasst der Ärztliche Direktor Sieberer seine frischen Eindrücke zusammen. Für ihn gilt es jetzt, die richtigen Lehren und Schlüsse aus den neuen und den noch zu erwartenden Erkenntnissen zu ziehen. Dabei stehen für ihn zwei Aspekte im Mittelpunkt. „Wir müssen weiter die Frage beantworten, wie wir die damaligen Patientinnen und Patienten bei der Verarbeitung der Erlebnisse und persönlichen Erfahrungen am besten unterstützen können.

Hier sehen wir unsere Verantwortung darin, aufmerksam zuzuhören, mit den Betroffenen im Gespräch zu bleiben und auch Hilfestellung anzubieten, wenn es darum geht, einen Kontakt zur „STIFTUNG ANERKENNUNG UND HILFE“ herzustellen.“ In den vergangenen Monaten hatten sich insgesamt zehn Menschen an die KRH Psychiatrie gewandt und um Unterstützung durch den Nachweis über Aufenthaltszeiten in der KJP im Zeitraum bis 1975 gebeten.

Doch für den ärztlichen Leiter der KRH Psychiatrie stellt sich aufgrund der Studienergebnisse und der Erfahrungsberichte noch eine weitere grundlegende Frage. „Wir stellen heute mit Erschrecken fest, was noch bis in die 70er Jahre hinein im Umgang mit Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen, die eigentlich Schutz und Hilfe gewähren sollten, an der Tagesordnung und gesellschaftlich akzeptiert war. Die damaligen medizinisch-fachlichen Standards haben offenbar Dinge zugelassen, die wir aus heutiger Perspektive nicht mehr nachvollziehen können.

Wir gehen deshalb davon aus, dass auch unser heutiges Selbstverständnis und unsere therapeutischen Überzeugungen und Handeln im Lichte der Zukunft ebenfalls anders beurteilt werden als wir es heute tun. Sich dieses Umstandes bewusst zu sein und unser heutiges Handeln vor diesem Hintergrund immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen, ist eine der uns aus der Aufarbeitung der Vergangenheit zuwachsende Aufgabe.

WCN/klinikumregionhannover/lw